
Polizeiakten enthüllen neue Details über Mengele, einen der grausamsten NS-Verbrecher
Josef Mengele, einer der brutalsten NS-Kriegsverbrecher, lebte jahrzehntelang unbehelligt in Südamerika. Eine bisher als verschollen geltende Polizeiakte zeigt nun, wie er der Justiz entkommen konnte.
Investigativjournalisten des deutschen öffentlich-rechtlichen Senders MDR Investigativ haben eine Polizeiakte über den NS-Verbrecher Josef Mengele entdeckt, die als verschollen galt.
Die Unterlagen stammen offenbar aus dem Archiv der argentinischen Bundespolizei und enthalten sensible Informationen über Mengeles Aufenthaltsorte nach dem Zweiten Weltkrieg – und erweitern das heutige Wissen über seine Flucht und die internationale Fahndung. Laut MDR Investigativ verschwand die Akte im Jahr 2002 aus dem Archiv.
Die Unterlagen zeigen, dass Josef Mengele plante, im Februar 1959 nach Deutschland einzureisen. In der Akte befindet sich auch ein entsprechender Antrag an die argentinischen Behörden – bislang unbekannt.
Der renommierte Historiker und NS-Zeit-Experte Bogdan Musial prüfte Kopien der Akte sorgfältig und bestätigte deren Echtheit.
„Diese Akte erweitert unser bisheriges Wissen. Sie zeigt, dass einige Länder deutlich mehr Informationen hatten, als man bislang angenommen hatte.“
Mengele wollte 1959 nach Deutschland reisen – ob er es tat, bleibt unklar
„Interessant ist, dass er im Februar 1959 tatsächlich unter seinem richtigen Namen nach Westdeutschland reisen wollte. Wir kannten die Gerüchte, und wir wissen, dass sein Vater damals krank war. Das passt. Und jetzt haben wir die Bestätigung, dass er wirklich die Absicht hatte, als Josef Mengele zu kommen. Das zeigt: Er fühlte sich sicher. Er sagte: meine Identität ist echt, ich fühle mich sicher und ich fahre sogar nach Deutschland, um meinen Vater zu besuchen.“
Bislang habe es dazu nur unbestätigte Aussagen gegeben, sagt Musial gegenüber MDR Investigativ.
Ob Mengele tatsächlich nach Deutschland zurückkehrte, wollte MDR Investigativ vom Auswärtigen Amt wissen. Das antwortete: „Dem Auswärtigen Amt liegen keine Informationen darüber vor, dass Josef Mengele tatsächlich in die Bundesrepublik Deutschland gereist ist.“
Mengele in Auschwitz – Selektionen und grausame Experimente
Vor 80 Jahren, am 8. Mai, endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Damit endete auch der Holocaust – die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Zentrum dieses Genozids war das Lager Auschwitz-Birkenau, in dem über eine Million Menschen ermordet wurden. Josef Mengele „arbeitete“ in diesem Konzentrationslager als Arzt.
Mengele war für die Selektionen zuständig – er entschied, wer von den Deportierten arbeiten oder für seine grausamen medizinischen Versuche genutzt werden durfte und wer leben durfte. Die anderen wurden sofort in den Gaskammern ermordet.
Im Frühjahr 1945 wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit.
Wenig später verschwand Mengele. Bereits im Mai 1945 stellten die Alliierten einen Haftbefehl wegen Massenmords gegen ihn aus.
Viele NS-Verbrecher lebten nach dem Krieg in Südamerika
Wie viele andere NS-Verbrecher nutzte er das Chaos der Nachkriegszeit und floh 1949 nach Argentinien.
Zahlreiche NS-Verbrecher flohen nach Südamerika. Argentinien – wie viele westliche Länder – konzentrierte sich früh auf den Kampf gegen den Kommunismus. Nazis galten dabei als willkommene Verbündete.
„Alle westlichen Regierungen damals haben deutsche Wissenschaftler aufgenommen. Argentinien auch“, sagt Ariel Gelblung vom „Simon-Wiesenthal-Zentrum“ in Buenos Aires. Seine Organisation sucht weltweit nach NS-Verbrechern.
Bis heute ist nicht bekannt, ob Mengele in Argentinien tatsächlich wissenschaftlich tätig war. Finanziell wurde er von seiner wohlhabenden Familie unterstützt. Er lebte gut, in einer Villa in einem der besten Viertel von Buenos Aires. Es gab keinen ersichtlichen Grund zu fliehen.
Wer warnte Mengele in Argentinien?
Doch Ende der 1950er Jahre soll Mengele Hinweise erhalten haben, dass jemand ihm auf der Spur sei. Er war Teil eines Netzwerks ehemaliger Nazis, die sich gegenseitig halfen. Während er 1959 in Paraguay untertauchte, hielt sich Adolf Eichmann – einer der Hauptorganisatoren des Holocaust – in Buenos Aires auf.
Das wurde Eichmann zum Verhängnis. Der israelische Geheimdienst Mossad spürte ihn auf, entführte ihn und brachte ihn nach Israel, wo er zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
Josef Mengele hingegen lebte weiter frei – zunächst in Paraguay, später in Brasilien.
Die Redaktion von MDR Investigativ erhielt die Dokumente über einen Sammler und konnte sie abfotografieren.
„Diese Unterlagen stammen aus dem Polizeiarchiv Argentiniens. Sie enthalten den tatsächlichen Ablauf – mit korrekten Fakten und Daten“, sagt der Sammler, der anonym bleiben möchte.
Die Akte sei laut MDR Investigativ seit über 20 Jahren verschwunden. Warum sie so lange verborgen blieb? Laut Professor Daniel Feierstein vom Zentrum für Genozidforschung in Buenos Aires wollte sich die Polizei schützen.
„Vor der Entführung Eichmanns hat Deutschland zum ersten Mal Informationen nach Argentinien geschickt und die Auslieferung von Josef Mengele beantragt.“ Doch als argentinische Sicherheitskräfte eintrafen, war Mengele schon geflohen.
„Er wurde sogar zweimal gewarnt“, sagt Feierstein. Es wird vermutet, dass die Hinweise aus dem Polizeiapparat selbst kamen. Es gab eine interne Untersuchung. „Diese interne Untersuchung war geheim und wurde aus dem offiziellen Archiv entfernt.“
Die Rolle der deutschen Regierung im Fall Mengele
Eine Kopie der neu entdeckten Polizeiakte liegt laut MDR Investigativ in keinem Archiv in Buenos Aires. In anderen Dokumenten finden sich jedoch identische Passagen – ein weiterer Hinweis auf die Echtheit.
Aus Unterlagen des Auswärtigen Amts geht hervor, dass Deutschland erst Ende 1959 ein Auslieferungsgesuch an Argentinien stellte. Drei Jahre zuvor hatte Mengele unter seinem richtigen Namen bei der deutschen Botschaft einen Pass beantragt.
Die argentinische Polizei wusste offenbar, wo Mengele war. Aus der Akte geht hervor, dass die Polizei in Argentinien bereits im Januar 1960 informiert war, dass Mengele nach Paraguay geflohen war.
„Interessant ist, dass Argentinien wusste, wo er war. Das wusste ich auch nicht“, sagt Historiker Musial.
Im selben Jahr floh Mengele weiter – nach Brasilien. Aus der Akte geht hervor, dass ab 1963 die brasilianische Polizei Informationen über Mengele bei den argentinischen Behörden anforderte – darunter Fingerabdrücke und Fotos. Das deutet darauf hin, dass die Polizei konkrete Hinweise hatte, dass sich Mengele auf brasilianischem Staatsgebiet aufhielt.
Was wussten die deutschen Behörden damals? Der Auslandsnachrichtendienst BND arbeitete mit Mengeles Helfern zusammen – und erlaubt bis heute nur begrenzten Zugang zu den Akten.
Auf Anfrage von MDR Investigativ antwortete der BND: „Ein Zugang zu Akten über (…) Kriegsverbrecher und Personen, die im Verdacht stehen, NS-Verbrechen in Südamerika begangen zu haben, wurde bereits Forschern und Journalisten gewährt. Es kann nicht im Voraus gesagt werden, wann bestimmte Unterlagen öffentlich zugänglich gemacht werden (...).“
Kritiker werfen dem deutschen Staat bis heute vor, kaum zur Aufarbeitung beigetragen zu haben – oder gar vollständig versagt zu haben.
Historiker Musial sieht das anders: „Versagen würde bedeuten, dass der Staat diese Leute tatsächlich verfolgen wollte. Im Fall von Mengele ist klar: Dieser Wille war nicht da.“ Deshalb, so sagt er, habe der Staat nicht versagt. „Im Gegenteil – er war erfolgreich. Denn das Ziel war: ihn nicht zu verfolgen.“
Mengele lebte bis zu seinem Tod 1979 unter falschem Namen in Brasilien. Sein Grab wurde 1985 entdeckt.
Die neu aufgetauchte Polizeiakte wirft neue Fragen auf – zur Mitschuld Argentiniens, Brasiliens und Deutschlands im Umgang mit einem der grausamsten NS-Verbrecher.