
Können Emotionen unser Gehirn übernehmen – und wie stoppen wir das?
Emotionen leiten uns. Sie helfen uns zu entscheiden, ob wir etwas beginnen, fortsetzen, verändern oder beenden – abhängig von unserem momentanen körperlichen Zustand, der Umgebung und der Bedeutung, die wir dem Ganzen beimessen.
Auf diese Weise funktionieren Emotionen wie ein innerer Kompass – sie zeigen uns, was wichtig ist, oder warnen uns, wenn etwas nicht stimmt, schreibt Psychologe Theo Causidis für Psychology Today.
Im Laufe eines Tages erleben wir ein breites Spektrum an Emotionen. Die meisten davon vergehen unbemerkt. Doch es gibt drei Emotionen, die unser Gehirn vollständig übernehmen können – sie umgehen das Denken, blockieren die Logik und führen zu impulsiven, oft schädlichen Handlungen, berichtet N1.
Wenn uns diese Emotionen überwältigen, verlieren wir das emotionale Gleichgewicht. Wir handeln wie auf Autopilot. Der denkende Teil des Gehirns schaltet ab, und die Emotionen übernehmen das Kommando. Je länger sie unkontrolliert bleiben, desto stärker werden sie – und entfernen uns immer weiter von dem, was uns wirklich wichtig ist.
Wichtig ist zu betonen, dass diese Emotionen nicht „schlecht“ sind. Keine Emotion ist per se schlecht. Sie sind Boten, keine Feinde. Sie überbringen eine Botschaft und erfüllen einen bestimmten Zweck – um zu überleben, sich zu verbinden und Sinn zu finden.
Diese Emotionen haben gemeinsame Merkmale:
Sie verengen unseren Fokus ausschließlich auf das, was sie ausgelöst hat. Sie erzeugen einen starken inneren Druck, „entladen“ zu werden. Sie entfernen uns von unseren wahren Prioritäten – oft unbemerkt.
Die ersten beiden sind Angst und Wut.
Sie sind laut, schnell und bekannt. Aber die dritte ist weniger offensichtlich – Verlangen. Verlangen schreit nicht. Es flüstert. Und genau deshalb kann es das Denken ebenso stark übernehmen.
Angst: Gehirn im Überlebensmodus
Sobald wir mit etwas konfrontiert werden, das uns auch nur ein wenig erschreckt, registriert das Gehirn es als Bedrohung. Ob es nun ein knurrender Hund ist oder ein feindseliger Blick – die „Kampf oder Flucht“-Reaktion wird aktiviert.
In diesem Moment wird alles Unnötige pausiert. Der Fokus richtet sich ausschließlich auf die Bedrohung und eine mögliche Reaktion. Sollen wir ausweichen? Uns stellen? Erstarren und hoffen, dass es vorübergeht?
Die Bedrohung muss nicht einmal real sein. Schon vorgestellte Angst genügt. Ein Beispiel? Lampenfieber – Herzklopfen, Leere im Kopf, Fluchtimpuls. Das ist die Angst, die die Kontrolle übernommen hat.
Wenn Angst dominiert, verengt sich der Fokus, der Körper bereitet sich auf Verteidigung vor, langfristiges Denken verschwindet. Statt Strategie – Überleben.
Dieser Mechanismus hat früher unser Leben gerettet, hält uns heute aber oft zurück – wir meiden wichtige Gespräche, verpassen Chancen und verschließen uns, wo wir uns öffnen sollten.
Wut: Schnelle und heftige Reaktion
Während Angst auf Bedrohung reagiert, reagiert Wut auf eine Kränkung. Diese muss nicht verbal sein – es kann das Gefühl sein, übergangen, missverstanden, nicht respektiert oder angegriffen worden zu sein.
Wenn Wut uns überkommt, konzentriert sich unser Fokus auf das, was uns gekränkt hat – und auf die Person, die das ausgelöst hat. Instinktiv schlagen wir zurück.
Wir heben den Ton, unsere Körperhaltung wird defensiv oder aggressiv, Worte werden schärfer. Wir kritisieren die Fehler, Schwächen und Mängel des anderen. Vernunft und Nachdenken verschwinden. Der Teil des Gehirns, der sagen würde: „Poste das jetzt lieber nicht“ – funktioniert nicht mehr.
Wut trifft uns wie eine Welle – heftig, bis sie uns an den Strand schleudert. Manchmal unverletzt, oft aber mit Folgen.
Dasselbe gilt, wenn wir selbst die Quelle unserer Wut sind. Selbstkritik kann ebenso unerbittlich sein. Statt Verständnis – Angriff.
Denk an den letzten heftigen Streit mit einem geliebten Menschen. Hast du gesagt, wie sehr du ihn schätzt? Oder hast du lieber mit „Essig“ als mit „Honig“ reagiert?
Verlangen: Die leise Saboteurin
Verlangen ist eine universelle Emotion, wird aber selten offen thematisiert. Selbst in der Therapie wird es oft gemieden. Es ist intim. Privates Terrain. Doch wie Angst und Wut kann es unser Gehirn vollständig vereinnahmen.
Verlangen ist nicht nur sexueller Natur. Es umfasst das Verlangen nach Aufregung, Belohnung, Erfüllung. Wenn es unkontrolliert bleibt, führt es zu zwanghaften Gedanken, schlechten Entscheidungen und emotionaler Abkopplung.
In extremen Fällen trägt es zu sexueller oder pornografischer Sucht, krankhafter Eifersucht, Idealisierung des Partners und Selbsterniedrigung bei.
Verlangen bündelt die Aufmerksamkeit, verengt das Bewusstsein und schaltet das Urteilsvermögen aus – leise, aber beharrlich. Es schreit nicht – es flüstert.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass bei sexueller Erregung die Aktivität der für Belohnung und Motivation zuständigen Hirnareale steigt, während die für Selbstkontrolle und kritisches Denken zuständigen Bereiche an Funktion verlieren. Hormone wie Dopamin, Testosteron und Oxytocin fluten das System. Das ganze Gehirn ist im Einsatz.
Interessant ist: Der Gegenstand des Verlangens muss nicht einmal real sein. Fantasien und Gedanken reichen. So wie uns imaginierte Bedrohungen lähmen können, nährt auch vorgestellte Nähe das Verlangen weiter.
Was können wir tun?
Das Ziel ist nicht, diese Emotionen zu unterdrücken. Sie sind keine Feinde. Aber wir können sie verlangsamen und den rationalen Teil des Gehirns aktivieren.
Hier kommt die emotionale Regulation ins Spiel – die Fähigkeit, zu erkennen, was wir fühlen, zu verstehen, wie es uns beeinflusst, und ein Verhalten zu wählen, das mit unseren Werten und Zielen übereinstimmt.
Ein effektives Werkzeug ist die LAPS-Strategie:
Label (Benennen)
„Ich fühle Angst/Wut/Verlangen.“
Indem wir die Emotion benennen, aktivieren wir das Zentrum für Bewusstheit und den rationalen Teil des Gehirns.
Allow (Zulassen)
„Es ist in Ordnung, das zu fühlen.“
Emotionen sind menschlich. Wir sollten sie nicht verteufeln.
Pause (Pausieren)
„Ich reagiere noch nicht.“
Es entsteht Raum zwischen Gefühl und Handlung. Die Welle wird vorbeiziehen.
Shift (Umlenken)
„Was kann ich jetzt stattdessen tun?“
Lenke die Aufmerksamkeit auf etwas Beruhigendes oder Geistig Forderndes. Aktiviere den Verstand.
Angst, Wut und Verlangen sind Teil der menschlichen Erfahrung. Aber wenn wir ihnen zu viel Raum geben – bringen sie uns an Orte, wo wir nie hinwollten. Zu verstehen, wie sie funktionieren, macht uns nicht kalt – sondern bewusst.
Und Bewusstheit ist der erste Schritt, um die Kontrolle über unseren eigenen Geist zurückzugewinnen.